Sie stehen mit ihren schicken Autos vor Schulen oder vor Treffpunkten junger Mädchen, beobachten diese und sprechen gezielt minderjährige Mädchen im Alter von 11-16 Jahren an. Oder sie nehmen übers Internet in Chats Kontakt mit Mädchen auf und verleiten sie dazu, sich mit ihnen zu treffen. Die Rede ist von sogenannten „Loverboys“. Zuerst sind sie übermäßig zuvorkommend, nehmen die Mädchen mit auf eine Spritztour, kaufen ihnen Geschenke und sprechen von Liebe. Aber mit Liebe hat dies ganz und gar nichts zu tun. Es geht um ein brutales Geschäft. Die Mädchen gleiten nach einer regelrechten Gehirnwäsche in die Prostitution ab, um ihrem „Loverboy“ zu gefallen. Häufig sind auch Drogen mit im Spiel. Das besonders Tückische daran: Loverboys sorgen dafür, dass die Mädchen in ihrem gewohnten Umfeld bleiben, weiterhin den Unterricht besuchen und die Eltern somit erst aufmerksam werden, wenn sie Verhaltensveränderungen feststellen, die häufig jedoch auf die Pubertät geschoben werden. So können die Loverboys unbehelligt vorgehen, bis es dann meist zu spät ist und die jungen Mädchen sich schon zu weit in der emotionalen Abhängigkeit befinden.
Wir stärken Dich e. V. sprach mit Bärbel Kannemann, Kriminalhauptkommissarin a.D. und Mitarbeiterin der Stiftung Stop LoverBoys NU.
Frau Kannemann, seit Ende der Neunziger berichten niederländische Medien regelmäßig über sogenannte „Loverboys“. In Deutschland nehmen sich bislang eher wenige Medien diesem Thema an. Sind wir nicht im gleichen Ausmaß davon betroffen?
Das liegt einfach daran, dass man in Deutschland bisher noch nicht darüber spricht. Soweit ich gehört habe, bin ich wohl wirklich die erste, die dieses Thema in der Öffentlichkeit anspricht. Es gibt in Deutschland auch bislang keine Opfer oder keine Angehörigen von Opfern, die darüber reden und mit ihrem Problem an die Öffentlichkeit gehen.
Die ersten Schritte, das Thema bekannt zu machen, wurden zwar bereits unternommen mit der RTL explosiv-Sendung „Mit 13 in den Fängen von Loverboys“ im Februar 2010 und dem Bericht im Spiegel Anfang Juli 2010, aber es bedarf noch viel Aufklärungsarbeit bis die Opfer bereit sind, sich anderen anzuvertrauen und auch hier in Deutschland regelmäßig in den Medien dieses Thema aufgegriffen wird.
Was ist in den Niederlanden anders gelaufen? Waren die Medien interessierter oder stand Ihre Stiftung im Hintergrund, die das Thema einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat?
Ich würde sagen beides. In Holland gibt es die Fernsehsendung „Vermisst“. In dieser Sendung wurden viele Mädchen gesucht, bei denen sich herausstellte, dass sie Opfer von Loverboys waren. Die Redaktion der Sendung ist sehr daran interessiert, über dieses Thema zu informieren.
Hinzu kommt natürlich auch die Arbeit der Stiftung. Genau den Schritt, den ich jetzt hier in Deutschland mache, wurde in Holland vor knapp 3 Jahren unternommen. Diese Zeit ist uns Holland voraus und das begründet natürlich auch, weshalb die Öffentlichkeit in Holland bereits besser informiert ist.
Es beginnt mit Romantik und endet in einer Katastrophe. Wie gehen Loverboys vor?
Loverboys suchen sich ganz gezielt Mädchen aus, die eher Außenseiterinnen sind oder sich in einer Phase ihres Lebens befinden, in der sie leicht zu beeinflussen sind. Beispiel: Wenn drei Mädchen die Straße entlang gehen, zwei davon gehen durchgehakt und eines geht einzeln nebenher, dann wird natürlich das Mädchen, das einzeln läuft, gezielt angesprochen.
Auf jeden Fall sind es Mädchen, die nicht konkret einer Gruppe angehören oder zugeordnet werden können. Das kann auf Umständen beruhen, dass sie beispielsweise eine andere Musikrichtung bevorzugen, andere Kleidung tragen, dass sie neu an der Schule sind und noch keine Freundschaften geschlossen haben. Zielpersonen von Loverboys sind eindeutig bevorzugt Einzelgängerinnen.
Wie können sich Mädchen schützen? Wie erkennt man einen sogenannten „Loverboy“?
Man erkennt ihn im Grunde gar nicht. Das ist das Fatale bei dieser Problematik. Loverboys sind in der Regel sehr freundlich, fast schon „überfreundlich“. Es sind nicht unbedingt ausgesprochen schöne Jungs oder Männer, aber sie haben eine Art auf die Mädchen zuzugehen, die diese Mädchen beeindruckt. Sie schenken ihnen die Beachtung, die sie brauchen und die Anerkennung, nach der sie sich sehnen. Das lässt Äußerlichkeiten in den Hintergrund rücken und macht die Beziehung andererseits so interessant. Die Mädchen fühlen sich ernst und wichtig genommen.
Gibt es Anzeichen im Verhalten der Loverboys, z.B. eine Regelmäßigkeit der Vorgehensweise, die bei allen gleich ist und sie dadurch erkennbar machen?
Eigentlich auch nicht, aber es gibt in jüngster Zeit Veränderungen im Verhalten der Loverboys. Bisher war die Vorgehensweise so, dass die Mädchen über einen längeren Zeitraum verwöhnt wurden, beschenkt wurden, extrem freundlich behandelt wurden. Das hat sich in letzter Zeit durch das Internet sehr geändert. Man kommt jetzt schnell zur Sache. Manchmal kommt es bereits beim zweiten oder dritten Treffen zur Gruppenvergewaltigung, zu Misshandlungen oder zu Bedrohungen. Das geht in der Regel jetzt sehr schnell.
Der einzige Schutz, den man haben kann, wenn man sich mit Jemandem verabredet oder trifft, besteht darin, dass man andere darüber informiert oder dass man nicht allein zum Treffen geht. Wobei die Loverboys das am Anfang auch akzeptieren. Man trifft sich häufig in Fast Food Ketten, in Eisdielen oder in Kinos zusammen mit Freundinnen oder anderen Personen, damit sich die Mädchen für die ersten Treffen absolut sicher fühlen und dann eben auch keine Bedenken haben, sich danach alleine mit dem Loverboy zu treffen, wenn man ihn bereits vermeintlich kennt.
Nach außen hin stellt sich das Vorgehen der Loverboys als „ganz normale“ Beziehung dar. Die Loverboys kommen auch häufig zu den Eltern nach Hause und stellen sich als Freunde ihrer Töchter vor. Wir haben sogar Fälle, wo die Eltern gesagt haben „Geh doch mit ihm mit, der ist nett und freundlich und passt auf dich auf“. Sie wiegen also ganz bewusst auch die Eltern in Sicherheit.
Auf welche Anzeichen sollten Eltern und Lehrkräfte achten? Wie äußert sich der Kontakt mit einem Loverboy bei den Mädchen?
Die ersten Anzeichen zeigen sich in Äußerlichkeiten. Zuerst findet eine Veränderung in der Bekleidung statt. Die Aufmachung geht mehr in Richtung „sexy“ Kleidung mit kurzen Röcken und tiefen Ausschnitten. Auch das Schminken nimmt zu. Teilweise auch übertriebenes Schminken mit sehr viel Makeup.
Nach einer gewissen Zeit finden aber auch psychische Änderungen statt. Die Mädchen reagieren häufig sehr launisch, benehmen sich den Eltern und Lehrkräften gegenüber frech und patzig.
Worauf Eltern besonders achten sollten:
- Wenn die Mädchen kaum noch kurzärmlige Sachen tragen, um die blauen Flecken der Misshandlung zu verdecken.
- Wenn sie stundenlang duschen, um den Schmutz der Vergewaltigung abzuwaschen.
- Wenn sie sich viel in ihrem Zimmer einschließen.
Weitere Anzeichen sind,
- dass die Mädchen häufig plötzlich 2-3 Handys haben.
- dass sie ständig angerufen werden, auch in der Nacht.
Worauf Lehrkräfte zusätzlich achten sollten:
- Wenn Schülerinnen sich häufig vor dem Sportunterricht drücken, da in Sportkleidung die Misshandlungen leichter zu erkennen sind.
Ein wichtiges Warnsignal ist natürlich auch der Drogenkonsum.
Das sind so die deutlichsten Anzeichen. Jedes einzelne für sich ist natürlich noch kein Hinweis auf einen Loverboy, aber wenn so 3-4 Punkte zusammenkommen, dann sollte man reagieren.
Senden die Mädchen bewusst Hilfesignale aus?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche sind so verängstigt und eingeschüchtert, dass sie genau das vermeiden wollen. Diese Mädchen verhalten sich dann sehr angepasst. Es gibt aber viele Mädchen, die Aufmerksamkeit erlangen wollen, z.B. durch Essstörungen, Magersucht und Selbstverletzungen. Ritzen ist z.B. ein deutliches Signal für einen Hilferuf.
Was können Eltern tun, wenn der Kontakt eines Loverboys zu ihrer Tochter bereits besteht? An welche Einrichtungen können sie sich wenden?
Anlaufstellen in Deutschland sind bislang die Jugendämter und Hilfsorganisationen mit unterschiedlichster Ausrichtung, die vor Ort vorhanden sind. Einrichtungen speziell für Opfer von Loverboys und deren Angehörige, wie es sie bereits in den Niederlanden gibt, gibt es in Deutschland bisher noch nicht.
Auf den Spiegelreport habe ich viele Reaktionen erhalten. Der erste Satz oder die erste Zeile in diesen Mails lautete häufig: „Es ist das erste Mal, dass wir in Deutschland etwas über dieses Problem erfahren und das erste Mal, dass wir jemanden ansprechen können.“
Bislang ist auch nur ein einziges Opfer in Deutschland bekannt, das zur Polizei gegangen ist und Strafanzeige erstattet hat. Auch in Holland stellen die Mädchen ganz selten Strafanzeige und wenn, dann erst nach einigen Jahren:
Weil sie sich schämen. Weil sie sich unverstanden fühlen. Weil sie Angst haben, man glaubt ihnen nicht. Weil sie häufig Details aus dieser Zeit verdrängen und somit auch nicht wirklich konkrete und sachdienliche Hinweise geben können.
Häufig erhalten die Täter Bewährungsstrafe, so dass auch die Angst bei den Mädchen besteht, dass sie bei einem solchen Verhalten durch ihre Loverboys bestraft werden. Ich habe selbst bei einer Gerichtsverhandlung erlebt, dass ein Loverboy freigesprochen wurde und vor dem Gerichtsgebäude schon zwei seiner nächsten vermutlichen Opfer gewartet haben. Er hatte sich mit diesen Mädchen verabredet, da er nach seinen eigenen Angaben nur mal eben kurz zu der Verhandlung musste und sowieso gleich wieder freikommt. Sie warteten auf ihn, himmelten ihn an und gingen dann glücklich mit ihm weg.
Loverboys suchen sich sehr junge Mädchen als Opfer aus. Liegt der Grund darin, dass Mädchen in diesem Alter noch leicht beeinflussbar sind?
Ich denke, das ist einer der Gründe. Ein 11-jähriges Mädchen lässt sich natürlich leichter einschüchtern und beeindrucken, als ein 16- oder 17-jähriges Mädchen.
Ein weiterer Grund besteht darin, dass es immer mehr Freier gibt, die spezielle Wünsche äußern und dabei sind natürlich ganz junge Mädchen leider sehr begehrt.
Sie sagten bei einem Interview, dass die Mädchen ab einem bestimmten Zeitpunkt den Bezug zur Realität verlieren. Kann eine Therapie helfen?
Eine Therapie kann sicher zumindest soweit helfen, dass die Mädchen in ein relativ normales und relativ selbstständiges Leben zurückfinden. Ich kenne allerdings nur ein Mädchen, das ins Berufsleben integriert werden konnte. Alle anderen mir bekannten Opfer sind zum normalen Arbeiten nicht mehr fähig. Sie brauchen häufig viele Jahre, um sich wieder an den Tag-Nacht-Rhythmus zu gewöhnen. Sie haben Schwierigkeiten sich Chefs unterzuordnen, weil sie lange Zeit gehorchen und funktionieren mussten, so dass sie die Anweisungen von Vorgesetzten nicht mehr ertragen können. Sie haben viele Fehlzeiten und sind fast alle auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Ein weiteres Problem liegt darin, dass die mentale Abhängigkeit bei den meisten Mädchen bestehen bleibt. Bei den Mädchen, die sehr früh Opfer wurden, handelt es sich häufig um Mädchen, die bereits in anderen Situationen Opfer waren, wie beispielsweise sexueller Missbrauch durch den Vater, durch den Onkel oder andere Personen aus dem Nahbereich.
Es heißt, dass die Opfer meist aus der Mittelschicht kommen. Ist dies zutreffend?
Grundsätzlich muss man sagen, dass die Opfer aus allen Schichten kommen. Aber dieses Bild, das jahrelang in der Gesellschaft vorherrschte, dass Prostituierte meist aus schlechten sozialen Verhältnissen kommen, stimmt überhaupt nicht in Bezug auf die Opfer von Loverboys. Es betrifft Mädchen aus allen Schichten, wobei sehr häufig die Opfer aus „ganz normalen“ Familien stammen.
Sind Loverboys Einzeltäter oder handelt es sich um ein organisiertes Verbrechen?
Beides. Sie sind Einzeltäter, aber sie sind auch organisiert. Einzeltäter insoweit, dass jeder Täter seine speziellen Opfer hat. Normalerweise 1-5 Mädchen. Mit diesen Mädchen kann er tun und lassen, was er will. Allerdings werden die meisten Mädchen auch Opfer von Gruppenvergewaltigungen, d.h. dann kommen seine Freunde, die in der Regel ebenfalls Loverboys sind gemeinsam zu diesen Vergewaltigungen und Misshandlungen.
Für ein organisiertes Verbrechen spricht auch, dass die Mädchen ganz häufig zusätzlich als Drogenkuriere eingesetzt werden. Wir haben ein Opfer, dieses Mädchen wurde in Spanien auf dem Rückflug von Kolumbien mit 6 kg Kokain erwischt. Ihr Loverboy kann also kein Einzeltäter sein. Solche Vorgänge sind nur in einer Organisation möglich. Übrigens wurde dieses Mädchen zu 9 Jahren Haft verurteilt und der Loverboy hat für Körperverletzung nur 2 Jahre erhalten.
Was ist der Unterschied zwischen einem Loverboy und einem Zuhälter?
Der Unterschied ist häufig schon im Alter der Täter zu sehen. Wir haben 14-jährige Loverboys. Ein 14-Jähriger kann in der Regel nicht als Zuhälter arbeiten. Dann ist auch die Kontaktaufnahme eine andere. Zuhälter suchen ihre Opfer in der Regel nicht in Schulen.
Aber der ganz entscheidende Unterschied ist: Nach der Definition des Zuhälters ist er ja der „Beschützer“ der Prostituierten und kassiert dafür einen Teil ihres Lohnes. Bei Loverboys läuft es aber so ab, dass der Loverboy alles kassiert. Das Mädchen erhält ausschließlich Geld für „Arbeitsmaterial“ (Kondome, Gleitmittel). Wenn sie Glück hat, darf sie sich noch Zigaretten kaufen, aber meist bekommt sie diese auch über ihren Loverboy, da man ihr hier häufig noch Drogen beimischt. Es ist eindeutig noch eine gesteigerte Form zur Zuhälterei.
Was unternimmt Ihre Stiftung Stop LoverBoys NU, wie sieht ihre konkrete Arbeit aus?
Die Arbeit unserer Stiftung unterscheidet sich völlig in Bezug auf die beiden Länder Deutschland und Holland. In Deutschland bin ich momentan noch ausschließlich damit beschäftigt zu informieren und die Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen voranzubringen. Aufzuklären, Stellen zu finden, an die sich Eltern und Opfer wenden können und die Finanzierung zu regeln. Ich werde am Ende des Jahres voraussichtlich an einer Buch- und Lesereise teilnehmen für das erste Buch über Loverboys in deutscher Sprache. Ich bin natürlich übers Internet auch Ansprechpartner für Opfer und Eltern. Das wird auch angenommen, es haben sich bereits die ersten Opfer gemeldet.
In Holland ist man viel weiter, da sprechen wir mit Politikern, arbeiten mit der Polizei zusammen, mit der Justiz, mit Universitäten, die sich mit Kriminologie und Psychologie beschäftigen. Es gibt aber auch spezielle Auffangplätze für Opfer von Loverboys. Wir reden lange mit den Mädchen bis sie den Schritt aus der Prostitution wagen. Meist kommen sie dann zu unserer Stiftung. Der direkte Kontakt zu den Opfern und den Betroffenen ist in Holland viel stärker. Dieser ist hier noch gar nicht vorhanden bzw. noch in den Kinderschuhen. Das liegt natürlich auch an dem Umstand, dass ich bis jetzt die einzige in Deutschland bin, die für die Stiftung arbeitet und Deutschland auch von der Fläche größer ist.
In Holland fahren wir in der Regel innerhalb von einer Stunde los, wenn wir die Mitteilung erhalten, da ist ein Mädchen das Hilfe braucht, um dieses Mädchen oder die Familie aufzusuchen.
Finanziert wird die Arbeit unserer Stiftung in Deutschland bislang völlig aus den Eigenmitteln der Mitarbeiter. In Holland wurden wir insoweit unterstützt, dass uns ein Fahrzeug finanziert wurde.
Literatur:
Titel: Die Masche Liebe
Autorin: Helen Vreeswijk, übersetzt aus dem Niederländischen von Hermien Stellmacher
Verlag: Loewe Verlag
ISBN 978-3-7855-6680-0
Kurzbeschreibung:
Lisa, 15, kann ihr Glück kaum fassen, als sich der gut aussehende Mo ausgerechnet in sie verliebt. Der 22-Jährige überhäuft die Schülerin mit teuren Geschenken und hat stets ein offenes Ohr für ihre Probleme. Dass Mo mit Drogen dealt, verdrängt sie. Hauptsache, er liebt sie. Von Loverboys, bei denen Liebe nur eine Masche ist, um Mädchen zu Prostituierten zu machen, hat sie noch nie was gehört …